Ein harmonischer Familienalltag ganz ohne Konflikte – wäre das nicht ideal? „Nein, das wäre unrealistisch“, sagt Kiran Deuretzbacher. Wir haben mit Kiran über ihr Buch „Konflikte nutzen statt Vermeiden" gesprochen und sie erklärt, warum Konflikte in jeder gesunden Familie unvermeidbar und sogar wichtig sind.
Liebe Kiran, warum sind Konflikte in einer Familie wichtig für die Entwicklung und das Wachstum von Kindern?
Also erstens ist es ein völlig unrealistisches Ideal, ein konfliktfreies Familienleben führen zu können, und es ist einfach hinderlich, immer zu versuchen, ein unrealistisches Ideal zu erreichen, das es einfach nicht gibt. Das macht unglücklich und unzufrieden. Deshalb führt es zu einem viel zufriedeneren Familienleben, wenn wir akzeptieren, dass es in jeder Familie Konflikte gibt. Konflikte sind kein Zeichen des Scheiterns. Im Gegenteil: Konflikte sind eine Chance, mehr über sich selbst und den anderen zu lernen. Und wo kann man Kindern besser beibringen, wie man mit Konflikten umgeht, als in der Familie? Konfliktfähigkeit ist etwas sehr Wichtiges für ein zufriedenes Leben, sowohl im privaten als auch im beruflichen Kontext.
Was sind häufige Gründe, warum Eltern Konflikte in der Familie vermeiden, und wie kann das die familiäre Dynamik beeinflussen?
Sehr viele Eltern haben in ihrer Kindheit keinen guten Umgang mit Konflikten gelernt und sind deshalb in Konfliktsituationen überfordert. Umso wichtiger ist es, dass unsere Kinder von Anfang an einen guten Umgang mit Konflikten lernen. Wenn Eltern versuchen, Konflikten lange aus dem Weg zu gehen, führt dies meist dazu, dass Konflikte lange ignoriert und nicht gelöst werden und dann eskalieren. So verfestigt sich die Annahme, dass Konflikte schlecht sind. Wenn Konflikte jedoch von Anfang an angesprochen werden, gibt es viel mehr Möglichkeiten und Kapazitäten, sie zielführend und gewinnbringend zu lösen.
Es gibt viele (unbewusste) Strategien, Konflikte zu vermeiden. In meinem Buch habe ich einen Abschnitt, in dem ich diese beschreibe und Eltern sich darin wiedererkennen können, um dann einen neuen Umgang mit Konflikten zu lernen.
Wie kann man Konflikte so führen, dass sie zu einer stärkeren Bindung und einem liebevolleren Miteinander beitragen?
Wenn es bei Konflikten nicht um Gewinnen oder Verlieren geht, sondern um ein ehrliches Interesse an den Anliegen des anderen und um die Bereitschaft, sich selbst und die eigenen Anliegen anzuschauen, entsteht ein sehr wertvoller Raum des ehrlichen Austauschs und man kann gestärkt aus einem Konflikt hervorgehen.
Welche konkreten Strategien oder Techniken empfiehlst du, um in Konfliktsituationen konstruktiv zu kommunizieren und Lösungen zu finden?
In meinem Buch stelle ich die von mir entwickelte Konfliktpyramide vor. Erst auf der 3. Stufe geht es um die Lösung. Das ist ein Fehler, den viele Menschen machen: Wenn es einen Konflikt gibt, beginnt man schnell auf der Handlungsebene zu streiten und will sofort eine Lösung finden. Dabei vernachlässigt man jedoch die eigentlichen Anliegen, die hinter dem Konflikt stehen. Deshalb ist es wichtig, zuerst auf die Anliegen zu schauen. Es ist auch wichtig zu verstehen, wie das Gehirn funktioniert und dass logisches Denken nicht so gut funktioniert, wenn gerade viele Gefühle aktiviert sind. Daher ist es wichtig, zuerst auf die Emotionsregulation und die Anliegen zu achten und dann Lösungen zu finden.
Im Buch habe ich noch viele weitere Grundlagen, um sich selbst im Konflikt besser zu verstehen, um dann sicherer und bewusster im Konflikt handeln zu können.
Kannst du uns Beispiele für typische Situationen geben, in denen Konflikte auftreten können, und erklären, wie man diese effektiv angehen kann?
Beispiele gibt es ja so viele. Im Buch habe ich für jede Altersstufe einen klassischen Konflikt ganz genau aufgearbeitet und zeige dann auch an Beispielen gute Konfliktlösungen. Im Familienalltag sind es oft Übergänge, die konfliktreich sind, wie der Morgen, das Nach-Hause-Kommen oder der Abend. Um als Erwachsene gut Konflikte mit Kindern führen zu können, ist ein wichtiger Punkt die eigenen Ressourcen. Es ist sehr hilfreich, wenn Erwachsene bewusst auf ihre eigenen Ressourcen und Bedürfnisse achten, um die Kinder gut begleiten zu können. Also niemals mit voller Blase, Hunger oder Durst Kinder bei einem Übergang begleiten.
Über die Autorin:
Kiran Deuretzbacher ist Ergotherapeutin, Eltern- und Familienberaterin sowie Embodiment Coach. Seit 2003 begleitet sie Eltern, Pädagoginnen und Pädagogen dabei, sich selbst und ihre Kinder besser zu verstehen, einen gesunden Umgang mit großen Gefühlen zu lernen und Konflikte zu bewältigen. In Beratungen, Kursen und mit ihrem Podcast unterstützt sie jährlich viele Tausend Familien dabei, mehr Gelassenheit und Vertrauen im täglichen Miteinander und bei allen Herausforderungen zu finden, v. a. rund um die Wackelzahn- und Grundschulzeit. Kiran Deuretzbacher hat drei Kinder und lebt in Hannover. https://bindung-beziehung.de/
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